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Freiheit, dieses kleine Wort

Nie war unser Wohlstand so gross. Noch nie hatten wir so viele Freiheiten. Und doch tun wir alles, um uns mittels Vorschriften, Verordnungen und Verboten um diese Freiheiten zu bringen. Was ist los?

Es ist ein paar Jahre her, da war ich einmal richtig stolz auf die Schweiz. Dieses Gefühl suchte mich im Spreewald in Brandenburg heim, eine befreundete Schriftstellerin feierte im Wochenendhäuschen einen runden Geburtstag, es waren viele Menschen da, Berliner vor allem. Schweizer gab es nur zwei, meine Frau und mich.

Die Berliner fragten uns, wie sie denn so sei, die Schweiz. Sie fragten dies mit einem gewissen Unterton, den man oft hört bei Deutschen mit akademischer Bildung, wenn es um ihr südliches Nachbarland geht. Es ist eine Mischung aus Aggressivität, Bewunderung und Unverständnis. Ich antwortete, auch nicht ganz ohne Unterton, die Schweiz sei zum Beispiel ein Land, in dem die Menschen nach dem Prinzip der Eigenverantwortung lebten. Am kommenden Samstag etwa würden wir in unserem Dorf wieder die Papiersammlung organisieren, wir Väter würden also mit kleinen Lastwagen durchs Dorf fahren, und unsere Kinder würden die Papierballen, welche die Bewohnerinnen und Bewohner bis spätestens um sieben Uhr morgens an den Strassenrand gestellt hätten, auf die Ladefläche werfen. Ja, ich würde mich auf dieses Gemeinschaftserlebnis sehr freuen, das sei immer ein grosses Fest, fügte ich noch an. Die Berliner, die um uns herum standen, rissen die Augen auf, schüttelten ungläubig die Köpfe, und einer sagte schliesslich: «Aber dafür ist doch das Bauamt 2 zuständig.» Ich lächelte in mich hinein. Ich war stolz, solche bürokratendeutschen Sätze nicht einmal zu denken.

Das Ende unserer Eigenverantwortung

Mein Stolz war freilich von kurzer Dauer. Die Papiersammlung, die dem Brandenburger Geburtstagsfest folgte, sollte die letzte sein, die wir Väter organisieren durften. Jemand im Dorf hatte Sicherheitsbedenken angemeldet, der Kinder wegen, die auf der Ladefläche der Kleintransporter mitfuhren, wenn auch nur im Schritttempo. Und, o Schreck, die Versicherung würde vielleicht, vielleicht auch nicht zahlen, wenn etwas passierte. Das war also das Ende unserer Eigenverantwortung.

Diese Geschichte, von denen es unzählige gibt in diesem Land, ist eine kleine, die sich nahtlos ins grosse Ganze fügt. Wir sehen uns umstellt von Verhaltensregeln, Vorschriften, Verboten, die uns den Hals zuschnüren. Und es wird immer enger. Allein der Bund, getrieben von Politikern, Verwaltung und internationalen Normen, fügt dem an sich schon stattlichen Regelwerk jedes Jahr mehr als 5000 Seiten an Gesetzen und Verordnungen hinzu.

Freiheit, also die Möglichkeit, in freien Stücken über sich selbst zu verfügen oder wenigstens seine Abhängigkeiten selbst zu wählen, ist ein kleines Wort geworden in diesem Land, das so stolz auf seine scheinbare Unabhängigkeit ist. Wir scheinen die Freiheit nicht mehr auszuhalten. Jedem Problem, und sei es ein noch so kleines, soll mit einer Regel begegnet werden, am liebsten gleich mit einem Verbot. Eine kleine Sammlung aus den letzten Wochen: Zugreisende mit einem 2.-Klasse-Billett dürfen nicht mehr durch die 1. Klasse laufen, verfügen die SBB. Asylsuchende sollen umsonst arbeiten und Bargeld soll ihnen verboten werden, damit sie es nicht mehr nach Hause schicken können, meinen einige CVPler. Hummer sollen nicht mehr lebend importiert werden dürfen, meint die Vereinigung der Kantonstierärzte. Und Wegwerf-Plasticsäckli sollen nun aber wirklich endgültig per Verordnung verboten werden.

Nein, das ist nicht alles per se unsinnig, diese Petitessen können im Detail vielleicht sogar sinnvoll sein, aber sie zeigen in ihrer Lächerlichkeit, dass wir den Sinn fürs Ganze verloren haben. Und es sind ja wahrlich nicht nur Kleinigkeiten, mit denen wir unsere Freiheiten einschränken. Die Swissness-Vorlage, die eine Art Reinheitsgebot für hiesige Produkte anstrebt, ist zu einem bürokratischen Monster verkommen, das viele Unternehmen eher belastet als stärkt. Die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht dehnt ihren Einflussbereich immer weiter aus und kujoniert einzelne Branchen mit Begehren zur Einsicht in Dinge, die sie nichts angehen, weil sie die unternehmerische Freiheit betreffen. Die Apparate, welche diejenigen beaufsichtigen, die wirklich arbeiten, also Werte produzieren, wachsen in allen Branchen, und zwar wahrlich nicht nur beim Staat.

Das «Wir» verödet langsam zu einem «Ich»

Wir alle – und damit meine ich wirklich wir alle, schliesslich sind wir ja das Volk – haben eine Maschinerie in Gang gesetzt, die uns längst über den Kopf gewachsen ist; sie bestimmt unser Denken und unser Handeln. Wenn wir je über diese Maschinerie reden, dann sind wir uns schnell einig, wie ungeheuer sie uns geworden ist. Danach flüchten wir uns aber auch schnell in Rechtfertigungen, warum dies oder jenes ja doch nötig ist. Diese (Selbst-)Beschwichtigungen kann man verstehen, vor allem, wenn man weiss, wie viele unterdessen von diesen Beaufsichtigungs-Apparaten abhängig geworden sind – etwa, weil sie selbst darin eine Existenz gefunden haben. Solchen Apparaten wohnt die Tendenz inne, sich selbst zu rechtfertigen, was sie noch einflussreicher und unentbehrlicher werden lässt.

Diese Apparate geben aber nicht nur immer mehr von uns ihr täglich Brot, sie nähren, nein: sie mästen eine Branche ganz besonders. Hätte die Schweiz einen König, er käme aus der florierenden Kaste der Juristen. Der Schweizerische Anwaltsverband zählt heute 9500 Mitglieder, mehr als doppelt so viele wie noch vor 15 Jahren. Über ein Viertel der Bundesparlamentarier hat einen juristischen Hintergrund. Und ein Lehrer, der neu eine Klasse übernimmt, kennt diejenigen Namen seiner Schüler zuerst, deren Vater oder Mutter Anwalt ist. «Ich kenne keinen arbeitslosen Anwalt», sagte der Zürcher Jurist René Schumacher einmal der «Zeit». «Der Markt saugt alles auf, was von den Hochschulen kommt.» Die grossen Firmen werden immer häufiger von Juristen geführt, kein CEO traut sich mehr, eine Entscheidung zu fällen, ja, ein Wort zu sagen, ohne vorher die Rechtsabteilung befragt zu haben. Der ehemalige Grossbanker Oswald Grübel sagte mir einmal, seinen Juristen wäre es eigentlich am liebsten gewesen, er hätte gar nichts mehr öffentlich gesagt. Ja, kleinlaut sind wir geworden.

Es ist paradox: Unser Lebensstandard ist so hoch wie nie, wir können reisen, wohin wir wollen, unsere Freiheiten wären so gross wie nie – aber wir tun alles, um sie uns zu vergällen. Jedes Zipfelchen Leben wird geregelt, als trauten wir uns selbst nicht mehr. Vor was haben wir eigentlich Angst?

Die wichtigste Frage, die wir uns stellen sollten, bevor wir uns im Dienste irgendeines Partikularinteresses in unserer Handlungs- und Denkfreiheit selbst beschränken, lautete: Was dient dem Gemeinwohl, also uns allen? Und bei dieser Güterabwägung muss der Wert der Freiheit immer höher gewichtet werden als derjenige der Sicherheit.

Was also tun? Vielleicht sollten wir einmal darüber nachdenken, warum in unserer Gesellschaft das «Wir» langsam zu einem «Ich» verödet, warum die Gemeinschaft durch den Egoismus verdrängt wird. So banal es klingt, aber wir reden zu wenig miteinander, wir sollten uns darauf verständigen, was wir wollen, und nicht nur darauf, was wir nicht wollen. Der Negation wohnt keine Zukunft inne. Aber vielleicht sollten wir einfach einmal einen bescheidenen Anfang machen, indem wir zuerst mit dem nervigen Nachbarn reden, bevor wir ihm gleich unseren Anwalt auf den Hals hetzen.

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